Kham war eine unermeßlich weite und wilde Landschaft, die nicht nur auf dem Dach der Welt lag, sondern scheinbar auch an deren äußerstem Ende. Es war ein Land, das sich mit aller Macht dagegen zu sträuben schien, gezähmt oder bezwungen zu werden, ein Land, wie Shan es noch nie erlebt hatte. Ein stetiger Wind fuhr über das einsame Hochplateau und verwandelte den Himmel in ein ständig wechselndes Mosaik aus schweren Wolken und leuchtenden blauen Flecken. Als Sergeant Feng wieder einmal anhielt, um seine Karte zu konsultieren, hörte Shan flüchtige, unidentifizierbare Geräusche, als würde der Wind Stimmen und Rufe mit sich tragen, seltsame, abgehackte Laute wie ferne Schmerzensschreie. Es gab Orte, so glaubten manche der alten Mönche, die als Filter für das Leid der Welt fungierten und die Qualen einfingen und festhielten, die kreuz und quer über die Erde trieben. Vielleicht war das hier solch ein Ort, dachte Shan, an dem die Schreie und das Weinen der Millionen sich von unten ansammelten und Vom Wind in kleine Geräuschfetzen zerschlagen wurden, wie Kiesel in einem Fluß. – (Aus Eliot Pattison, Der fremde Tibeter, Berlin 2003, S. 293)
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